Volkes Wille

Angefangen habe ich mir diese Gedanken zu machen, als es bei den Parlamentswahlen in Polen vor ein paar Wochen unerwartet wiederholt zu einem Rechtsruck kam. Was macht die Faszination einer unverblümt rechts-nationalen Politik aus? Warum werden Wähler durch solche Parteien nicht abgeschreckt, wenn abzusehen ist, dass deren Vertreter ganz klar autokratische Ziele verfolgen und damit die so schwer erkämpften demokratischen Grundrechte in Gefahr bringen?
Wieso wird sehenden Auges die Zerstörung unser aller Lebensgrundlagen nicht nur ignoriert, sondern Menschen, die sich dafür einsetzen, als grüne Spinner abgetan oder sogar bedroht?

Dieses Rechtsruck-Phänomen erscheint als eine weltweite Tendenz. Natürlich darf man nicht außer Acht lassen, dass die Mehrheit aller Länder dieser Erde gar keine Demokratie in unserem Sinne kennen. Nach einer Untersuchung von „Brot für die Welt“ leben 85% der Weltbevölkerung mit Staatsformen, in denen die Zivilgesellschaft unterdrückt, geschlossen oder beschränkt ist. Und dieser Prozentsatz steigt seit einigen Jahren beschleunigt an. Bei den anderen 15% ist erstaunlich mit anzusehen, wie bei demokratischen Wahlen das Privileg dieser Freiheit leichtfertig dahin geschenkt wird. Auf Anhieb fallen mir da eine ganze Reihe von Staaten ein, wie Italien, Ungarn, die Slowakei, Polen, Israel und nicht zu vergessen die USA – natürlich mit unterschiedlicher Brisanz.

Wie verhält es sich nun bei uns? Mit dem Blickwinkel eines Vertreters der Boomer-Generation aus dem Osten Deutschlands möchte ich diese Frage einmal beleuchten. Unsere Generation stellt bundesweit einen entscheidenden Teil der Bevölkerung. Wir sind ein wichtiger Leistungsträger in unserer Gesellschaft und sitzen auch gut vertreten an den Schalthebeln der Macht. Aber unsere Altersgruppe zeichnet im Osten noch eine Besonderheit aus. Wir waren zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung die mobilste Schicht der Bevölkerung. Das ist insofern wichtig, da mit der Einführung der D-Mark zu einem künstlich hohen Umtauschkurs auf dem Beitrittsgebiet der ehemaligen DDR große Teile der Wirtschaft kollabierten. Die neuen Jobs entstanden im ohnehin attraktiveren Westteil Deutschlands und die Jugend zog hinterher. Das führte zu einem dauerhaften Bevölkerungsschwund im Osten. In der Folge wurden natürlich auch weniger Kinder in den östlichen Bundesländern geboren. Die Folgen sind bis heute unübersehbar. Die DDR hatte zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung über 18 Mill. Einwohner. Heute leben in diesen Bundesländern ohne Berlin zusammen weniger als 13 Mill Einwohner. Im Bundesländervergleich innerhalb Deutschlands läge der gesamte Osten damit hinter NRW und Bayern nur auf Platz drei. Und der Altersdurchschnitt der Bevölkerung ist außerdem entsprechend höher! Die Wirtschaftsleistung pro Kopf liegt im Osten nach wie vor unter dem Niveau der West-Bundesländer, mal abgesehen von Ausnahmen wie Jena.

Worauf will ich hinaus? Ich suche nach Gründen warum eine extrem rechte Partei, wie die AfD besonders im Osten einen solchen Rückhalt in der Bevölkerung findet. Wenn jetzt Wahlen stattfänden, kann sie gemäß seriösen Meinungsumfragen mit einen Stimmenanteil von um die 40% rechnen und würde somit fast flächendeckend stärkste Partei! Wie ist das zu erklären?

Der Aufwärtstrend der AfD ist bundesweit wahrscheinlich nicht stärker als der Zuwachs an Rechtspopulismus weltweit. Die AfD kommt mit weitgehend einfachen Themen aus. Ich fasse hier einmal frei zusammen:

  • Betonung der deutschen Nation
  • Traditionelles Rollenverständnis in der Familie
  • Begrenzung der Immigration
  • Erhöhung der Verteidigungsausgaben zum Schutz der deutschen Grenzen
  • Heraushalten aus internationalen Konflikten (z.B. Ukraine und Palästina)
  • Stärkung der Wirtschaft durch Entbürokratisierung
  • Leugnung des Klimawandels und Senkung von Umweltstandards

AfD ist nicht gleich AfD. Man beachte allein den Spagat der Führungsspitze:
Tino Chrupalla, einem bodenständigen Handwerksmeister aus der Lausitz einerseits und Alice Weidel andererseits, einer lesbischen Intellektuellen aus dem Westen, die mit ihrer Lebenspartnerin und den Kindern nicht einmal ihren Hauptwohnsitz in Deutschland hat.
Früher war die Partei um Jörg Meuten oder Frauke Petri eine eher rechts-konservative Kraft. Heute reichen die Führungspersönlichkeiten der Partei weit in das rechtsextreme Spektrum der Gesellschaft mit eindeutig völkischem Gedankengut wie bei dem Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah, mit Direktmandat des Chemnitzer Umlands, oder dem Westimport Björn Höcke nach Thüringen als Vorsitzenden der stärksten Fraktion im dortigen Landtag!

Wieso demonstriert der Wähler bei diesen Polemikern, die nicht einmal den eigenen Parteirichtlinien Beachtung schenken, oder in der Vergangenheit sogar kriminelle Aktivitäten entwickelt haben, eine solche Toleranz? Oder soll man sagen Ignoranz? Oder ist es sogar Desinteresse an dem Verhalten dieser „Vorbilder“? Hauptsache von dort kommen Aussagen, die man gerne hört, sie bieten schnelle Lösungen oder noch platter verbreiten einfach nur die Aura eines Führers, dem man dann ohne tieferes Nachdenken nachläuft!
Möglicherweise findet man von jedem etwas.

In der Tat hat sicher jeder seine eigenen Gründe. Es gibt ja nicht den Wähler! Und 40% ist auch nicht die Mehrheit. Es gibt so viele Meinungen wie Einwohner. Offensichtlich lässt sich auch im Osten mit rund 60% der Leute die Mehrheit von der AfD nicht einwickeln.
Trotzdem, was macht auf die andern 40% der Menschen so viel Eindruck, dass sie ihnen ihre Stimme geben würden?

Schauen wir noch einmal auf die Schlagworte der AfD:

  • Es gibt genug Menschen mit gesundem, aber auch mit übersteigertem Nationalbewusstsein.
  • Die ständige mediale Aufmerksamkeit bezüglich der LGBTQ-Community, Regenbogen-Bewegung, Gender-Sprache ist für die entsprechenden Gruppen sicher wichtig. Aber wer sich davon nicht angesprochen fühlt, und das könnte sogar die Mehrheit sein, hat sich über die Thematisierung der sogenannten Normalos durch die AfD vielleicht sogar gefreut.

So kann man Punkt für Punkt durch die Themen gehen. Was macht das mit potentiellen Wählern? Wenn man für jeden einzelnen Punkt auch nur wenige Befürworter findet, die sich aber vom restlichen Spektrum der Parteien nicht in gleicher Weise angesprochen fühlen, summiert sich das eben!
Hinzu kommen die Wähler, die von ihrer bisherigen Partei enttäuscht sind, z.B. pazifistische Wähler der Grünen Partei, da diese plötzlich für Waffenlieferung in Krisengebiete ist.
Oder vom SPD-Wählern, die finden, dass ihrer Partei der soziale Touch abhandengekommen ist.

Hier im Osten kommen da noch zwei weitere Effekte hinzu. Zum einen der bereits begründete höhere Altersdurchschnitt. Für ältere Menschen haben die kommenden Umwelt- und Klimadesaster ganz einfach auf Grund des begrenzten Zeithorizontes in die Zukunft nicht die Bedeutung wie für Jungwähler. Außerdem dürften für Menschen im gehobenem Lebensabschnitt die nationalen und familien-traditionellen Gesichtspunkte der AfD eben auch eingängiger sein.
Der zweite Aspekt betrifft die prägende Sozialisierung der großen Altersgruppe unter den damaligen DDR-Bedingungen. Man folgte ganz selbstverständlich den autoritären Machtstrukturen. Anders zu sein, war in der Regel nicht vorstellbar. Auch ging der Aufbruch der Jugend mit der 68‘er Bewegung im Westen an der DDR weitgehend vorbei. Damit hat sich in den östlichen Bundesländern viel Konservativismus erhalten. Wenn ich mich so umschaue, wurde der wenigstens zum Teil weiter auf die nächste Generation übertragen. Es war in der DDR gefährlich rechts-nationales Gedankengut zu äußern. Die AfD bereitet nun endlich die Bühne dafür. Wenn man diese Tendenz hat, findet man hier schnell seine politische Heimat.

Noch ein Punkt war in der DDR sehr viel anders als im Westen Deutschlands. Die Gesellschaft war sehr homogen. Ausländer gab es so gut wie keine. Die paar aus Vietnam, Kuba oder Angola, die zum Arbeiten oder als Studenten ins Land geholt wurden, hatten von vornherein nur einen zeitlich begrenzten Aufenthaltsstatus. Sie lebten getrennt von der Bevölkerung in ihrer eigenen Blase in dafür errichteten Wohnheimen. Dadurch gab es kaum Berührungspunkte mit der restlichen Bevölkerung. Die so sozialisierte Mehrheitsbevölkerung der östlichen Bundesländer kann den heute ständig steigenden Ausländeranteil durchaus als störend oder sogar bedrohlich empfinden. „Ausländer raus“ Parolen der AfD finden einen entsprechend fruchtbaren Boden.

Ein Verbotsverfahren der AfD, wie von der SPD auf ihrem Parteitag kürzlich beschlossen, nützt da gar nichts.
Bei dessen unwahrscheinlichen Erfolg, wird nicht verhindert, danach wieder eine ähnliche Partei aber mit gleicher Gesinnung zu gründen solange sich genug Wähler finden.
Und bei Nichterfolg eines solchen Verbotsverfahrens kann sich die AfD gar keine bessere Werbung wünschen und wird noch populärer.

Wenn die AfD weiter aus der Verantwortung gelassen wird, kann sie aus der Opposition heraus mit ständiger Meckerei gut weiterwachsen.
Und was passiert, wenn sie doch die Macht erringt? In Thüringen ist sie schon stärkste Partei! Wie kann man verhindern, dass rechtsstaatliche demokratische Strukturen von ihr ausgehöhlt werden – siehe Ungarn oder die USA in diesen Tagen!